Eine Kurzgeschichte von Gastautor Paul Stefan Wolff

Autor, Paul Stefan Wolff

Ein neuer Lebensabschnitt

Das Bienenjunge war nervös vor dem großen Tag.

„Morgen ist deine Anprobe“, sagte die Amme. „Du erhältst deinen Heldenanzug. Ab da wirst du zu den anderen gehören.“

„Ich weiß nicht…“, antwortete das Junge.

„Hast du irgend einen Wunsch?“, fragte die Amme. „Du weißt, ich war wie eine Mutter zu dir und das bin ich bis zur letzten Sekunde. Soll ich dir was Besonderes zubereiten, ein besonderes Geschenk im Auge? Irgendwas?“

„Ich möchte mutig sein“, sagte das Kleine schließlich. „Aber…Was ist Mut?“

„Viele glauben, Mut ist, Großes zu wagen. Das glaube ich auch. Schau, du wirst mit dem Anzug gelbe Streifen haben. Das warnt alle in der Natur vor Gefahr. Denn zum Superhelden-Anzug gehört ein Stachel mit Gift. Aber zum Anzug gehört auch ein pelziges Oberteil, das fängt den Blütenstaub ein. Ich denke, wenn du dich anstrengst, ganz viel für uns einzusammeln, dann leistest du sehr Großes. Und das Größte, was du leisten kannst, ist, zu uns zu stehen, bei uns zu bleiben, uns erhalten zu bleiben, einfach zurückzukehren mit viel viel Blütenstaub. Denn wir brauchen viel.“

„Warum?“

„Weil diese großen Lebewesen, die Zweibeiner, die nehmen einen Teil davon.“

„Warum?“

„Weil sie auch essen müssen.“

„Warum nehmen sie von uns?“

„Weil sie es brauchen.“

„Warum?“

„Sicher für ihre Kinder.“

„Warum?“
„Weil Honig sehr gesund ist. Das weißt du selber. Und einige von ihnen schützen uns ja.“

„Warum?“

„Weil von dem Blütenstaub, dass du unterwegs verlierst, wachsen neue Pflanzen.“

„Warum?“
„Weil das so geplant ist. Das wollen die Pflanzen so, deswegen dürfen wir sie nehmen.“

„Warum?“

„Weil sie unsere Hilfe brauchen. Und jetzt frage nicht, warum, denn jemandem zu helfen, ist eines der edelsten Aufgaben im Leben. Jemanden zu helfen, das zeugt von wahrem Heldenmut.“

Die Anprobe am nächsten Tag lief gut, es wurde zur Biene geadelt, es war jetzt nicht mehr „das Junge“, sondern eine vollwertige Biene. Und dann ging es schon los, ins Freie, raus auf die Wiese. Und die noch junge Biene flog nur leicht nachdenklich, es freute sich, Kunststücke zu fliegen, es freute sich über die Sonne, genoß die Wärme und begann, Blütenstaub einzusammeln.

Und dann passierte es. Eines dieser großen Tiere, die auf zwei Beinen, schlug nach ihr, gerade, als sie aus einer Blüte vollbepackt herauskrabbelte. Die anderen hatten gesagt, wehr dich, sie sagten, stich zu. Und sie verspürte sehr wohl den Drang, weil sie hatte Angst. Und sie wollte ja mutig sein. So sehr! Also zog sie eine Runde durch die Luft und machte sich bereit. Als dann auf einmal ein Gedanke kam. Mut heißt, Großes tun. Und Mitleid wäre was Großes. Und auch: Nicht wieder heim zu kommen, das wäre ein Zeichen von Kleinheit.

Die junge Biene flog aus der Reichweite des Zweibeinigen und flog dann nach Hause. Sie sagte daheim im Bienenstock niemandem etwas davon, hoffte, es käme nie raus, denn sie war sich nicht sicher, ob sie richtig gehandelt hatte.

Und dann, als der Abend kam, kam die Aufseherin und klopfte ihr wortlos auf die Schulter.

„Wofür war das?“

„Dafür, dass du dich wie eine Biene verhalten hast. Nicht wie eine Wespe oder die anderen, die nur nehmen und auch nicht wie die, die eine Belohnung erwarten. Du bist eine sehr gute Biene. Die Zweibeiner nennen sowas wie dich menschlich. Wenn noch Aufopferung und Bescheidenheit dazu kommt, wird es zu bienenlich.“

Unsere Biene lächelte: „Ich darf also morgen wieder raus?“

„Sicher. Aber schlaf erstmal.“, sagte die Aufseherin. „Morgen ist ein neuer Tag, wir brauchen solche wie dich zum Sammeln ganz ganz viele ganz ganz dringend. Du hast heute die Welt da draußen gesehen – es gibt viel zu tun.“


In der Literatur